Schreibtisch // Reisen S. 12 //


Sitemap       Kontakt

Reisen S. 12   Reisen S. 11   Reisen S. 10   Reisen S. 9   Reisen S. 8   Reisen S. 7   Reisen S. 6   Reisen S. 5   Reisen S. 4   Reisen S. 3   Reisen S. 2   Reisen S. 1  

Nr. 87, Muskelkater und Seelenruhe –
Templestay in Südkorea

Reportage – abenteuer & reisen, erschienen 12. Mai 2017

Im buddhistischen Golgulsa-Tempel kann man als Gast im Rahmen eines Templestay Sunmudo, die Kampfkunst der Mönche, erlernen. Wir haben es getestet.

Noch nie in meinem Leben war ich so müde. Meine Glieder fühlen sich an wie Blei. Die Augenlider sind schwer. Die Schlafmatte schmiegt sich an mich. Doch es hilft nichts. Draußen schlägt die Glocke und im Tempel beginnt der Tag. Es ist vier Uhr früh. Zehn Minuten später schleppe ich mich durch den Wald. Das buddhistische Golgulsa-Kloster liegt am Fuß des Bergs Hamwol am südöstlichen Rand von Südkorea, nicht weit von der Stadt Gyeongju entfernt und doch völlig außerhalb.

Im Wesentlichen besteht die Anlage, deren Name so viel wie Stein-Buddha-Tempel bedeutet, aus einer simplen Piste, die sich vom Haupttor des Klosters bis zum Buddha-Tempel einen bewaldeten Hang hinaufwindet. Die Ursprünge der Tempelhöhle reichen ins 6. Jahrhundert zurück. Hoch über dem Haupttempel ragt ein vier Meter hohes, aus dem Kalkstein geschlagenes geschnitztes Relief von Buddha auf. Mit geöffneter Hand blickt er mild über die bewaldeten Hügel des Taebaek-Gebirges Richtung Meer.

Es ist kein Mensch zu sehen. Habe ich am Ende verschlafen? „Rechtzeitig auf den Weg machen“ wurden wir gestern bei der Einführung nachdrücklich ermahnt. Knapp 20 Minuten braucht man vom Gästehaus bis zur Amitabha Chanting Hall im Sockel der Buddha-Halle, wo die Morgenmeditation stattfindet. Auf einmal setzt ein seltsam hohles Geräusch ein: „Gock! Gock!“. Zwischen den Bäumen lugt das Wohnhaus der Mönche hervor. Eine glatzköpfige Gestalt schält sich aus der Dunkelheit. Es muss der Weckmönch sein. Mit dem Klopfen auf eine Art hohlen Kürbis ruft er seine Brüder aus dem Schlaf. Etwa ein halbes Dutzend Mönche leben im Kloster, dazu rund ein Dutzend Schüler und Schülerinnen, die hier Monate oder Jahre ihrer spirituellen Entwicklung und der Kampfkunst widmen. Die ersten Mönche lebten hier vor über 1000 Jahren in Steinhöhlen. In heutiger Form wurde das Kloster in den 1990er Jahren aufgebaut und ganz der Sunmudo-Tradition gewidmet, die hier ihre Wurzeln hat. Sunmudo bedeutet wörtlich „Zen-Kampfkunst-Weg“. In der modernen Form enthält es Elemente aus Tai-Chi, Qigong, Yoga und Kung-Fu. Die Bewegungen und Sprünge sind kämpferisch. Doch geht es um innere Zentrierung und Körperbeherrschung, echter Kampf wird keiner trainiert.

In den letzten paar Minuten sind von allen Seiten Gestalten dazugekommen. Schweigend kämpfen wir uns die harsche Steigung hinauf. Die Mönche erkennt man an ihrem ruhigen Atem und an den elegant geschnittenen, dunkeln Gewändern, die Tempelschüler hingegen am beseelten Blick und den helleren Trachten. Die Gäste verraten sich durch verzweifeltes Schnaufen und die formlosen, verwaschenen, senfgelb-braunen Einheitsuniformen. Oben angekommen lasse ich mich mit knackenden Knien sinken. Das haben wir gestern bei der Einführung geübt. Silben in fremdartiger Tonlage füllen die kleine Meditationshalle. Es hört sich an wie „Ham-da-mi-da-bi“ und erinnert entfernt an das Lied „Theo, spann den Wagen an“. Unzählige Male werde ich in der nächsten Stunde niederknien und wieder aufstehen, die Arme zusammen- und wieder auseinanderfalten und mich dabei nur an dem ausladenden Hintern der kurz geschorenen Sunmudo-Elevin vor mir orientieren. Eine andere Anleitung für Anfänger gibt es nicht. Während ich die Bewegungen immer flüssiger ausführe, beginnen die Gedanken zu schweifen.

Ziemlich weltlich erschien mir gestern das Empfangsbüro neben dem Haupttor. Und die melancholische Britin namens Sarah, die mich begrüßte, entsprach überhaupt nicht meiner Vorstellung einer buddhistischen Tempelbewohnerin. Ihre roten Haare lagen makellos über einem sorgfältig geschminkten Modelgesicht. Die dunkelgraue Klosteruniform saß wie maßgeschneidert. Seit drei Jahren lebt Sarah hier. Sie erläuterte die Regeln des Klosters: kein Alkohol, kein Fleisch, kein Tabak. Gäste sind angehalten, an allen Programmpunkten teilzunehmen. Jeder Tag endet mit einem gemeinsamen, zweistündigen Sunmudo-Training. Bettruhe ist um 22 Uhr. „Do not let your personal habits interfere with the program“ stand auf dem Zettel, den sie mir zusammen mit dem Schlüssel zu meinem Schlafraum reichte.

Auf dem Weg zum Gästehaus stolperte ich in zwei kräftige Menschen, die hessische Mundart sprachen. „Hallo, ich bin die Uli! Schläfst du in meinem Zimmer? Das ist der Martin. Wir sind auf Hochzeitsreise“, informierte mich Uli und schielte auf meine Zimmernummer. Üblicherweise teilen sich immer zwei oder drei Tempelgäste einen der kargen Schlafräume. „Nach Geschlechtern getrennt!“, wie Uli trötete. „Dann schlafen wir wohl im gleichen Zimmer.“ Doch ich hatte mir den Luxus eines Raumes für mich allein gegönnt, was sie irritiert zur Kenntnis nahm.

„Hoffentlich muss keiner pupsen“, prustet Uli mir plötzlich ins Ohr und katapultiert mich zurück in die Gegenwart. Inzwischen absolviere ich meine Verbeugungen wie ein übermüdeter Soldat. Als der Abt am Ende weihevoll hinausschreitet, lädt uns eine Schülerin mit rosigem Gesicht und dänischem Akzent zur Laufmeditation ein. Wir folgen ihr den Berg hinunter. „Konzentriert euch nur auf euren Atem. Ein und aus.“ Seltsam, wie schwer es fällt, auf Kommando ruhig zu atmen. Die Gedanken wollen ständig ausbüxen. Warum trägt Sarah im Kloster Make-up? Warum irritiert mich die demonstrative Beseeltheit der Dänin? Gerade als wir die große Wegbiegung hinter uns lassen, geht vor uns rot und strahlend die Sonne auf – überwältigend schön. Doch mein Magen schiebt die aufkommende Andacht knurrend zur Seite. Genau in diesem Augenblick kommen wir beim Speisesaal des Klosters an. Ausgebuffte Sache, diese Laufmeditation.

Später findet vor der Buddha-Halle wie an jedem Nachmittag eine öffentliche Sunmudo-Vorführung statt. Der Golgulsa-Tempel ist eine beliebte Touristenattraktion. Der asiatische Meister übernimmt die erste Darbietung. Zu den Klängen einer Flöte und dramatisch tiefer Trommelschläge von einer CD springt er aus dem Schneideritz unvermittelt in den Kopfstand, hüpft aus dem Stand meterhoch in die Luft, tritt und wirbelt so rasend schnell, dass man kaum noch erkennt, wo bei dem kurz geschorenen Mann oben und unten ist. Den Applaus des Publikums nimmt er mit der Gelassenheit eines Menschen entgegen, der weiß, dass er der coolste Hund der Show ist.

In Golgulsa kommen auf einen Asiaten zwei Europäer. Auch die Eleven, die sich im Hintergrund warmturnen, haben größtenteils westliche Gesichter. Einer trägt Socken mit dem Bild von Barack Obama, die er erst abstreift, als ihm der Meister das Signal zum Anfangen gibt. Er zeigt eine elegante Abfolge fließender Bewegungen, die doch vor schierer Körperkraft strahlen. Immer wieder erstarrt er in unmöglich erscheinenden Posen, die Beine in alle Richtungen gestreckt. Er wirkt wie eine Mischung aus Rudolf Nurejew und Bruce Lee und weckt den vermessenen Wunsch, so etwas auch zu können. „Uff, geschafft“, sagt er, als die Touristen gegangen sind. Théo aus Straßburg hat hier drei Jahre lang die Kunst des Sunmudo studiert. Dann zog er zurück nach Frankreich, um sie in einer Kampfkunstschule weiterzugeben. Einmal jährlich kommt er zum Auffrischen zurück nach Golgulsa.

Beim abendlichen Chanting bewege ich mich bereits wie ein alter Hase. Wie ein sehr alter, morscher Hase. Hätte ich nicht so Muskelkater, würde ich auf dem samtigen Holzfußboden der weitläufigen Trainingshalle am liebsten Rad schlagen. Doch ich bin hier, um meine Impulse zu zähmen. Das ist das Ziel des Buddhismus. Darum steht vor jedem Training eine halbe Stunde Meditation. Die Bewegungsabläufe schaue ich mir von der elfenhaften Sarah ab, deren Kissen heute vor meinem liegt. Gestern vor der Einführung für die Anfänger saß sie wie eine Statue mit geschlossenen Augen im Meditationssitz auf der Wiese bei der Trainingshalle. Eine Aura von Unnahbarkeit umgab sie. Wie hält sie dieses Leben aus? Was hat sie hierher geführt? In der schweigsamen Tagesroutine des Klosters sind keine Plauderstunden für solche Fragen vorgesehen.

Théo fordert uns auf, alle Glieder zu dehnen. Als er mein verzerrtes Gesicht sieht, nickt er verständnisvoll und lässt uns die Übung zehn Mal extra wiederholen. Er meint es gut. Den Schmerz beherrschen, sich nicht von ihm beherrschen lassen, das lehrt der Buddhismus. Anschließend heißt uns der asiatische Meister in gezirkelten Drehungen den Raum zu durchmessen, um dann mit energischen Lufttritten und schattenboxend herumzuwirbeln.

Am nächsten Tag erwartet uns Meister Hye Gak im Teehaus bei der großen Glocke hinter einem niedrigen Holztisch zur Teestunde. Eine kurzhaarige Elevin kauert als Übersetzerin dabei. „You can ask the Master anything.“ Andächtig nippen wir an unseren Tonbechern. „Was ist der Sinn von Sunmudo?“, fragt ein Gast aus der Ukraine. „Erleuchtung“, antwortet der Meister ungerührt. „Warum leben in diesem Kloster Männer und Frauen gemeinsam?“, will eine Frau aus Frankreich wissen. „Warum nicht?“, antwortet der Mönch. Dann zaubert er eine Schachtel Kaufhauskekse hervor und lässt sie an uns verteilen. „Essen Mönche auch Süßigkeiten?“, höre ich mich entsetzlicherweise fragen. Doch der Meister hat wohl jede dumme Frage schon gehört. „Mönche essen Salziges und Saures, Süßes und Bitteres“, lässt er weise verlauten. „Werden Mönche auch mal wütend?“, will Ulis Mann wissen. Aber ja. Er sei immer ein äußerst aufbrausender Mensch gewesen, lässt Hye ausrichten. Sunmudo habe ihm geholfen, sein Temperament zu zügeln. „Es geht nicht darum, nicht wütend zu sein. Es geht darum, sich nicht wütend zu verhalten.“ Das ist mal eine Lehre, mit der ich etwas anfangen kann. Mit einer gemessenen Verbeugung hebt der Meister die Teerunde auf.

Als ich gerade überlege, ob ich schlafen oder mich an den Teich neben dem Gästehaus setzen soll, läuft mir Meister Hye Gak über den Weg. Er trägt nun Hemd und eine schlichte Stoffhose. „Coffee?“, fragt er. Auf mein verdattertes „Yes, please“ hin winkt er mich in das Großraumbüro neben de Empfangsraum. Gelassen holt er eine Kaffeemühle, mahlt Bohnen, löffelt sie in eine Presskanne und gießt Wasser auf, als habe er in seinem Leben kein anderes Ziel. Nun müsste ich dem mutmaßlich einzigen buddhistischen Mönch, mit dem ich jemals in meinem Leben Kaffee trinke, Fragen stellen. Doch irgendetwas hat alle Gedanken aus meinem Kopf gesaugt. Ich will gar nichts wissen. Ich möchte einfach nur mit diesem Menschen, der kaum Englisch spricht und vor dem keine Nervosität und keinerlei Erwartungen ausgehen, diesen herben Kaffee genießen. Schlürfend und schweigend sitzen wir eine ganze Weile am Sitzungstisch des nüchternen Büros. Zum ersten Mal seit Ewigkeiten denke ich an absolut gar nichts – ein unerwartet erleichterndes Gefühl.

Am nächsten Morgen rammen Théo und sein Kollege im Glockenpavillon wieder mit vereinten Kräften den Holzklöppel gegen den eisernen Topf. Doch ich drehe mich nur kurz um. Meine Zeit im Kloster ist vorüber. Später kommt der Bus, der mich in die Stadt zurückbringen soll. Während die anderen Bewohner halb besinnungslos vor Müdigkeit zur Chanting Hall hinaufwanken, habe ich frei. Noch nie in meinem Leben war ich so müde. Und noch nie so glücklich: einfach nur, weil ich noch über eine Stunde auf dieser weichen, warmen Matte liegen bleiben darf.

© Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche kommerzielle oder nichtkommerzielle Nutzung, auch auszugsweise und in elektronischen Medien, nur mit schriftlicher Zustimmung der Autorin.

Südkorea
Reise
Templestay
Reportage
Sunmudo


<<< vorherige Reisetexte