Schreibtisch // Reisen S. 8 //


Sitemap       Kontakt

Reisen S. 12   Reisen S. 11   Reisen S. 10   Reisen S. 9   Reisen S. 8   Reisen S. 7   Reisen S. 6   Reisen S. 5   Reisen S. 4   Reisen S. 3   Reisen S. 2   Reisen S. 1  

Nr. 62 , Am grünen Rand der Welt –
Homestays auf den Azoren

Reisereportage - Die Zeit, erschienen 2. Oktober 2013

Kaum ein Stück Europa ist so einsam gelegen wie die Azoren – vielleicht wird deshalb die Gastfreundschaft besonders goßgeschrieben. Jetzt vermittelt ein neues Netzwerk Privatunterkünfte mit Familienanschluss

Wenn eine Landschaft zärtlich sein kann, dann diese hier. Weit ausgebreitet liegen Wiesen unter einem blassen, hohen Himmel. Dahinter glänzt die weiße Gischt des Atlantiks. Die Luft ist weich und etwas diesig, sie macht die Kontraste mild. Ich stehe auf der Azoreninsel Faial in einem Garten voller Farn und Rosenbüsche. Dahinter lugen zwei sauber gestrichene Holzhäuser hervor. Sie gehören Francisco Ribeiro, einem Insulaner von Mitte 40 mit schwermütigen Augen und einem fröhlichen Lächeln...

>>> weiter

© Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche kommerzielle oder nichtkommerzielle Nutzung, auch auszugsweise und in elektronischen Medien, nur mit schriftlicher Zustimmung der Autorin.

Portugal
Azoren
Inseln
Leben
San Miguel
Faial
Pico
Homestay
Reise
Reportage

 


Nr. 63, Wo die Blumen sind –
Jugendstil in Budapest

Reportage - Merian, erschienen 24. Oktober 2013

Blüten und Blätter, glänzende Kacheln, Ranken und Girlanden: Der ungarische Sezessionsstil ist eine besondere Variante des Jugendstils. Elegant und garantiert nicht schnörkellos.

Er tischte von Anfang an mit der großen Kelle auf. Ödön Lechner war kein Mann für Kompromisse. Schon eines seiner ersten Gebäude im städtischen Auftrag stattete der Architekt mit reich verzierten Arkaden aus, an denen Engel auf Kapitellen prangen. Der Bau kann sich sehen lassen – auch im Vergleich zur prunkvollen Staatsoper gegenüber. Dabei handelte es sich bei diesem Frühwerk bloß um ein Wohnhaus für Eisenbahnpensionisten. Damals, im Jahr 1884, baute Lechner noch im Stil des Historismus. Doch schon bald sollte er eine neue Architektur- und Kunstrichtung entwickeln, als deren Vater er schließlich in die Geschichte einging: den ungarischen Sezessionsstil.

Um 1890 kam in etlichen europäischen Ländern eine neue Ästhetik auf, die verschiedene Namen trug: Art Nouveau, Jugendstil oder – in Österreich und Ungarn – Sezessionsstil. Ihren Anhängern missfiel der rückwärts gerichtete Pomp des Historismus, der damals gerade in Mode war und auf verschiedene Stile vergangener Zeiten zurückgriff. „Jugendstil wollte außerdem die Grenze zwischen Grundform und Dekoration auflösen", sagt Ágnes Prékopa, Wissenschaftlerin am Kunstgewerbemuseum: „Er verstand sich als angewandte Kunst." Seine Vertreter wollten einen lebendigen, freien Geist zum Ausdruck bringen und suchten dafür eine gattungsübergreifende Sprache: mit gewundenen, organischen Formen, Tier- und Rankenmotiven, leuchtenden Farben und vergoldeten Elementen.

Über Lechner, den berühmtesten ungarischen Vertreter dieser Richtung, ist nicht allzu viel bekannt. Man weiß, dass er aus großbürgerlichem Haus stammte, in Berlin Architektur studierte und mit knapp 30 Jahren einen Schicksalsschlag erlitt: Seine Frau Irma starb und ließ ihn mit zwei Kindern zurück. Lechners Umsiedlung nach Paris in jener Zeit kann als Flucht aus Kummer gelesen werden. Er bliebt viele Jahre und lernte dort die ersten Ansätze der Art Nouveau kennen.

Lechner war Patriot. Nach seiner Rückkehr machte er sich daran, eine magyarische Ausprägung des Jugendstils zu entwickeln, die das gewachsene nationale Selbstbewusstsein zeigen sollte. Als Spross einer Familie von Ziegelfabrikanten hatte er großes Interesse an Kacheln. Die Baukeramikmanufaktur Zsolnay, die dem Vater eines Freundes gehörte, entwickelte damals ein frost- und säurebeständiges Material. Dank Perlmuttglanz und Robustheit wurde der „Pyrogranite" zu einem prägenden Baustoff des ungarischen Sezessionsstils. Lechner setzte ihn 1889 erstmals an der Fassade des Hauses Thonet ein, das er für die gleichnamige Möbelfirma errichtete. Die Kacheln dort schimmern noch heute in hellem Blau.

Ödön Lechner war aber auch ein Mester überwältigender Innenräume. Sein Kunstgewerbemuseum von 1896, das als erster ausgereifter Bau im ungarischen Jugendstil gilt, ist ein Palas aus sahneweißem Stuck, ziselierten Arkaden und überbordenden Ornamenten. Klar erkennbar sind seine Anleihen an die ungarische Volkskunst. Den Entwurf, mit dem er den Wettbewerb um den Bau gewann, nannte er „Keletre, Magyar!" – „Nach Osten, Ungar!". Dort verortete er die wahren Wurzeln des Volkes. An den indisch inspirierten Arkaden erkennt man winzige Blumenreliefs, ähnlich den Trachten-Stickereien auf dem Land. Es gibt stilisierte Tulpen, Herzen und immer wieder Pfauen: viele Ungarn betrachten den stolzen Vogeln noch heute als eine Art Nationalsymbol. Lechner ließ die Verzierungen im Museum bunt bemalen, seine Kritiker schmähten das Haus deshalb als „Palast des Zigeunerkaisers".

Um diese Reaktion wirklich zu verstehen, muss man zum Staatlichen Geologischen Institut fahren. Hier, an Lechners 1899 vollendetem Bau, ist das ursprüngliche Pastellbunt noch erhalten: Farbige Wände und Ornamente, die wie gestickt aussehen, füllen den Eingangsbereich fast vollständig aus. Kreisförmige Stuckverzierungen in Gelb- und Blautönen wirken wie an die Decke geklebte Kaffeetischdecken und machen Lechners Gestaltungskraft bis heute spürbar.

Mit der Postsparkasse trieb der Architekt seinen Überschwang auf die Spitze. Ein grün schimmerndes, mit ziselierten Keramikschornsteinen bewehrtes Dach lugt wie eine Narrenkappe zwischen Bäumen hervor; die Fassade zieren Brezelornamente. Das Gebäude von 1901 ist der Clown unter Lechners Häusern, er verärgerte damit seine städtischen Geldgeber. Es war der letzte große öffentliche Auftrag, danach baute er bis zu seinem Tod 1914 hauptsächlich für Privatleute.

Das Ende des Sezessionsstils bedeutete das aber nicht: Neben Lechner waren an die 100 ungarische Architekten am Werk. Einer von ihnen, Zsigmond Quittner, errichtete den Gresham-Palast. Der Prunkbau, 1907 als Sitz einer britischen Lebensversicherungsgesellschaft eröffnet und heute Sitz eines Luxushotels, unterscheidet sich deutlich von Lechners Werken: Wo die Häuser des Altmeisters wild vor sich hin kichern, lässt das „Gresham" seine verspielte Seele nur durch Details wie ein Pfau an einer Aufzugstür hervorschmunzeln.

Ähnlich gemäßigt ging Albert Körössy vor, als er 1901 das Walkó-Haus für den einstigen Minister schuf: Dort tragen zwei Frösche einen Balkon; und in den Reliefs an der Fassade sind verschiedenen Tiere, Früchte und Blumen versteckt. Die exzentrische Volksschule im VII. Bezirk stammt von seinem Kollegen Ármin Hegedüs: Den Bau von 1906 zieren leuchtende, folkloristische Vignetten, strahlend rote Schnörkel umrahmen die Fenster der Schulzimmer, ein Mosaikfries zeigt eine idealisierte Schülerschar.

Bis in die 1980er Jahre galt der Sezessionsstil in Ungarn als Kitsch. Erst nach der Wende stieg sein Ansehen. Heute ist er in Budapest nicht nur in Reinform zu finden. Er zwinkert von Hunderten Fassaden und Dächern – hier eine verwegen umrahmtes Fenster, dort ein Relief. Eine Einladung, immer wieder nach oben zu schauen.

© Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche kommerzielle oder nichtkommerzielle Nutzung, auch auszugsweise und in elektronischen Medien, nur mit schriftlicher Zustimmung der Autorin.

Ungarn
Budapest
Reise
Architektur

 


Nr. 64, Sonderzug nach Gödöllö –
Reisen auf Spuren von Kaiserin Sisi

Reisereportage - Merian, erschienen 24. Oktober 2013

Ungarns schönstes Barockschloss war Lieblingsort der Kaiserin Sisi. Jedes Jahr gedenkt man hier des Krönungstags von Franz Joseph I. und Elisabeth: mit Pomp und Theater, Nostalgie und Dampf

Staubiges Morgenlicht fällt in den stillen, alten Westbahnhof von Budapest. Ein paar Menschen in Sonntagskleidern sammeln sich vor der blassgrünen Holztür des königlichen Wartesaals. Neben der außergewöhnlich hoch angebrachten Klinke wirken sie klein. Zwei Frauen tragen Sommerkleider aus weißem Stoff, die Säume mit Spitze verziert. Ein pummeliger Mann benutzt seinen Regenschirm als Gehstock und übt eine Art Stechschritt. Vorfreude liegt in der Luft.

Heute soll es feudal werden, mit rauschenden Roben und bunter Pracht. Ein historischer Dampfzug wird uns in die k.u.k.-Vergangenheit nach Gödöllö bringen, gut 30 Kilometer nordöstlich von Budapest. Dort versuchen Verehrer und Neugierige jedes Jahr beim traditionellen „Krönungswochenende" einen Hauch der alten Zeit einzuatmen: Am 8. Juni 1867 wurde das Habsburger Kaiserpaar Franz Joseph I. und Elisabeth – zu ihrer Zeit als „Sisi" mit einem S verehrt – in der Matthiaskirche zum König und zur Königin von Ungarn gekrönt. Als Geschenk überließ ihnen der Staat Schloss Gödöllö. Es wurde zu einem der liebsten Orte Sisis. Diese eigenwillige und rätselhaft unglückliche Frau fasziniert die Menschen bis heute. Wo, wenn nicht auf Gödöllö, soll man ihre wahre Seele finden?

In der Holzklasse des Zugs erinnern Emailleschilder auf Ungarisch, Deutsch, Französisch und Italienisch daran, dass man au keinen Fall auf den Boden spucken darf. In den Wagen mit Polstersitzen nehmen die Ehrengäste Platz: ordensgeschmückte alte Männer, die vom Veranstalter eingeladen wurden, um etwas adelige Erlauchtheit beizusteuern; bei ihnen eine Dame mit Kropfband, die das Porträt der Kaiserin Elisabeth auf einem Stofftäschchen trägt. Unbewegt warten sie auf das, was kommen mag, ignorieren hoheitsvoll die zahlenden Gäste. So viel Standesunterschied muss wohl sein bei einem Krönungswochenende.

Im Plüschpolster des königlichen Abteils zuvorderst am Zug sitzen Franz Joseph und Sisi und lassen die Landschaft an sich vorbeirumpeln. Hinter dem imposanten Backenbart des Kaisers lächelt das gutmütige Gesicht von Attila Németh, Schauspieler und Operettensänger. Seine Kollegin Dóra Szabó ist seit 2007 die Sisi von Schloss Gödöllö. Damals fand ein Königin-Elisabeth-Ähnlichkeits-Wettbewerb statt, den sie mühelos gewann. Es sind weniger die Gesichtszüge der groß gewachsenen, schmalen Ungarin, als die Melancholie in ihren Augen und die kaum merkliche Spannung auf ihrer Stirn, die ihr eine Ähnlichkeit mit der Kaiserin geben, wie wir sie von Fotos und Gemälden kennen. Als Kind habe sie wie viele Romy Schneiders süßliche Film-„Sissi" geliebt, sagt Dóra. „Aber dann habe ich mehr und mehr über die richtige erfahren." Seither ist es ihr Anliegen, die wahre Elisabeth zu verkörpern: „Sie war eine schwierige, vielleicht hysterische Frau." Franz Joseph alias Attila hat Verständnis: „Sie war unglücklich, weil sie sich eingeengt fühlte."

Kindheit und Jugend verbrachte die gebürtige Herzogin Elisabeth, Enkelin des bayerischen Königs, unbeschwert und als Lieblingstochter ihres freigeistigen Vaters in Bayern. Im Alter von 15 Jahren begleitete sie ihre ältere Schwester, als diese zwecks möglicher Verheiratung ihrem Cousin Franz Joseph vorgestellt wurde. Der war seit seinem 19. Lebensjahr Kaiser von Österreich und verliebte sich sofort – in Sisi. Mit 16 wurde Elisabeth Kaiserin und hatte sich von einem Tag auf den anderen dem starren Protokoll des Wiener Hofs zu unterwerfen. Und so bald wie möglich einen Thronfolger zu gebären. Mit 17 kam das erste Kind, Tochter Sophie. Ein Jahr später folgte Tochter Gisela. Sophie starb jung an einer Infektion. Als Elisabeth mit 20 Jahren ihren einzigen Sohn, Rudolf, bekam, hatte der Tod ihrer Erstgeborenen und das Leben im goldenen Käfig sie schon depressiv gemacht. Mit täglichen mehrstündigen Haarpflegeexzessen und eisernen Sport- und Diätprogrammen versuchte sie, Kontrolle wenigstens über ihren Körper zu behalten. Und obwohl die Ehe mit Franz Joseph freundlich gewesen sein soll, flüchtete sie sich immer häufiger auf lange Reisen – etwas nach Gödöllö: Hier fühlte sie sich frei von Zwang und rigider Etikette.

Das alles soll die 29-jährige Dóra Szabó nun an diesem Wochenende verkörpern. Mit kerzengeradem Rücken sitzt sie Franz Joseph in einem schweren Reisekleid aus Samt gegenüber. Die vertrauten Blicke der beiden sind echt: Dóra und Attila sind auch im wahren Leben miteinander verheiratet.

Nach einer guten Stunde drosselt der Zug sein Tempo. Vom Bahnhof sind erste Jubelrufe der Schaulustigen zu hören. Schon die Zeitgenossen in Ungarn liebten Sisi, weil Sisi Ungarn liebte. Mit dem Streben des Volkes nach Selbstbestimmung konnte sie sich persönlich identifizieren und setzte sich bei ihrem Gatten für die ungarischen Interessen ein.

Heute schwenkt eine Schulklasse zur Begrüßung Zweige und Tücher. Mit monarchistischer Inbrunst schmettert die Kapelle. Die Frau mit der Sisi-Tasche jauchzt angesichts des bonbonbunten Trubels: „Na bitte! Wie liab! Wie süß!" Als breiter Karnevalstross ziehen Königspaar und Volk über die postsozialistisch verbaute Hauptstraße zum Schloss. Dort verschwinden die Herrscher hinter verschlossenen Türen. Das Volk strömt in die Anlage und sieht sich gründlich bei Königs um.

Gödöllö, das der Graf Antal Grassalkovich I. ab 1735 bauen ließ, gilt als schönstes Barockschloss Ungarns. Seit 1991 wird das marode Gemäuer saniert. Die zentralen Teile erstrahlen bereits in Sahneweiß, Marzipanrosa und Zuckerbäckerblau. Die Plünderung durch Wehrmacht und Rote Armee nach dem Zweiten Weltkrieg sieht man ihm nicht an. Auch nicht die Jahrzehnte als Altersheim, als das es von 1958 bis 1991 diente. Prachtstück im Zentrum der doppel-U-förmigen Anlage ist der Prunksaal mit goldgefassten Spiegeln und Balkon zum Schlosshof. Von hier gehen nach zwei Seiten die Flügel als endlos wirkende Zimmerfluchten ab. Im nördlichen, den Franz Joseph bewohnte, sind die Wände in kaiserlichem Rot bespannt. Schlachtengemälde in Öl auf oft mehreren Quadratmetern Leinwand hängen darüber, daneben Porträts von Sisi, Franz Joseph und anderen Größen ihrer Zeit. Sisi wohnte im Südflügel, hier dominiert ihre Lieblingsfarbe Veilchenblau. Es sind strahlende, doch etwas leblose Stuben mit geschwungenen Möbelbeinen und schimmernden Damastbezügen. Das meiste nach historischen Fotografien gefertigt und neu. Auf keinem der Stühle hat Sisi je gesessen. Darum fällt es schwer, hier den Geist ihrer Zeit zu erspüren.

Etwas später sitzt Franz Joseph an seinem Schreibtisch und regiert. „Erleben Sie Livebilder mit Führungen durch unsere Vergangenheit!", lockt im Foyer eine Tafel auf Ungarisch. Den ganzen Nachmittag werden Besucher zu sogenannten „Lebenden Szenen" durch die Räume des Schlosses geleitet. Als die ersten ins Regierungszimmer kommen, kratzt der Regent entschlossen mit dem Federkiel über dicke Papierbogen. Dan klingelt er nach dem Adjutanten. In smaragdgrüner Uniform tritt der heran und kündigt den Grafen Andrássy an. „Soll reinkommen", knarzt Franz. Mit dem zackigen Schritt eines Operettenleutnants erscheint der vom Aufständischen zum Vertrauten des Kaisers gewandelte ungarische Ministerpräsident, nimmt Haltung an und trägt sein Anliegen vor: „Ungarn muss gestärkt werden". – „Werde es mir überlegen", antwortet Franz Joseph knapp. Damit ist die Audienz beendet.

Die Szene soll, ziemlich verkürzt, den Kern der österreichisch-ungarischen Ausgleichspolitik darstellen, man fühlt sich jedoch eher wie bei den Dreharbeiten einer historischen Daily Soap. Die einheimischen Besucher schauen ungerührt darüber hinweg. In den kommunistischen Lehrplänen wurden die Habsburger, wenn überhaupt, allenfalls gestreift. Die Ungarn der mittleren Generation hörten von ihnen höchstens als Protagonisten einer überlebten Vergangenheit: Die Habsburger waren böse, wurden aber besiegt. Bis heute ist das Interesse an ihnen darum meist gering. In Gödöllö lernen die Ungarn sie jetzt als Darsteller eines Kostümspektakels kennen.

Vor einem Eckfenster im Prunksaal hat Sisi inzwischen in einem hochgeschlossenen, schwarz-weißen Nachmittagskleid am Teetisch Platz genommen und unterhält sich mit einer Hofdame. Als die davon eilt, dürfen sich die Besucher mit der Königin fotografieren. Dóra schaut jetzt schelmisch in die Kameras. Das sei der schwierigste Teil ihrer Rolle, sagt sie: „Ich bin eine lächelnde Person. Aber Sisi hat sich für ihre schlechten Zähne geschämt und sie immer versteckt."

Als die Gruppe gegangen ist, bauen sich die Frau mit dem Sisi-Täschchen und ihr ordensgeschmückter Begleiter vor Dóra auf. Einen Augenblich sehen sie einander ratlos an. „Er ist der Urenkel von Sisi", erklärt die Frau. Aber Dóra spricht kein Deutsch. Darum versteht sie nicht, dass die Grenzen von Vergangenheit und Gegenwart, Geschichte und Inszenierung hier für einen Moment verschwimmen. „Er ist der Enkel von Marie Valerie, Sisis jüngster Tochter", versucht es die Frau erneut. Doch Dóra reagiert noch immer nicht. Sie ist Kind einer anderen Zeit. Adel ist für sie in erster Linie eine Rolle mit schönen Kostümen. Und nichts, dem man andächtig die Hand zu schütteln hat. Nach einer verlegenen Pose fürs Foto ziehen die beiden davon.

Als sich die blaue Stunde über Gödöllö legt, fahren die Ehrengäste im Dampfzug zurück. Im Schlosspark sind nur noch wenige Spaziergänger. Tief hängt der Himmel über den weiten Rasenflächen. Königin Elisabeths Leben ist weit entfernt, Sisi wohnt hier nicht mehr. Aber diesen Himmel hat sie vielleicht auch gekannt. Die Kühle der Luft und die Ruhe, die einsetzt, wenn das Farbenspektakel des Tages zu Ende geht.

Am nächsten Morgen herrscht wieder Kaiserwetter. Im Schlosshof bahnt sich ein Höhepunkt des Tages an: eine Modenschau mit Roben, wie Sisi sie getragen hat. Die Schneidermeisterin Mónika Czédly hat die engen, schwer verzierten Gewänder anhand von Bildern und mit historischen Techniken exakt nachgefertigt. Als Models sind nicht nur die schlanksten Frauen, sondern auch die prächtigsten Hunde der Gegend aufgeboten. Ein Mannequin strauchelt beim Versuch, gleichzeitig den schwarzen Reifrock und einen kalbsgroßen, irischen Wolfshund zu bändigen, der Sisis Liebling „Shadow" verkörpert. Die Zuschauer klatschen gefügig.

Dóra hat Pause auf der Veranda und trinkt unter den Blicken einiger Gäste ein Glas Wasser. Als Sisi ist sie, genau wie einst ihr Vorbild, einem strengen Protokoll unterworfen. Gleich muss sie wieder zur „Lebenden Szene" in den Prunksaal. Die Maskenbildnerin will ihr noch die Nase abtupfen und drängt zur Eile. „Aber die Königin kann doch das Wasser nicht so runterstürzen", sagt Dóra. Druck und Trotz – auf einmal ist da doch ein Funken Sisi in der Luft: „Sisi wäre jetzt davongelaufen!". Sie nimmt einen langsamen Schluck, bevor sie wieder aufsteht.

Später, als sich der Parkplatz vor dem Schloss geleert hat, wird Dóra von einer Gruppe junger Frauen umringt. Ihr Kostümrock bläht sich in einem Luftstoß, wirkt auf einmal beweglich und leicht. Die Frauen knipsen sie, reichen Zettel zur Unterschrift und zwitschern selig. Es sind Musicalfans, die gewartet haben, bis ihr Idol Zeit für sie findet. Für Dóra ist das Krönungswochenende jetzt zu Ende. Nächste Woche spielt sie mit ihrem Mann in Budapest in „Die Schöne und das Biest".

Wo aber ist Sisi, wenn Dóra Feierabend hat? Man findet sie im Elisabeth-Park auf der Rückseite der Schlossanlage, abgetrennt durch eine mehrspurige Straße. Hier wachsen die Bäume wild und es duftet moosig. Im Schatten darunter sitzt das Volk von Gödöllö – Paare, junge Familien, Einsame. Auf einer Lichtung steht Sisi in einem Gewirr aus dornigem Hagebuttengestrüpp. Es ist eine der ersten von vielen Statuen der Königin, die 1898 in Genf von einem Attentäter ermordet wurde. Das Standbild wurde von der Dorfbevölkerung gestiftet und vom trauernden Franz Joseph ausgesucht. Die Frau, um die sich an diesem Wochenende alles drehte, ragt in tannengerader Haltung überlebensgroß auf. Der Kragen scheint sie fast zu erwürgen. Von links lächelt sie beinahe verschmitzt. Von rechts wirkt sie streng und glücklos. Fast sieht es aus, als habe sie sich vom Rummel des Märchenschlosses in den Park geflüchtet, und sei dann, auf ihrer viel zu hohen Säule, einfach erstarrt.

© Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche kommerzielle oder nichtkommerzielle Nutzung, auch auszugsweise und in elektronischen Medien, nur mit schriftlicher Zustimmung der Autorin.

Ungarn
Gödöllö
Reise
Kaiserin Sisi
Popkultur
Reportage

 


Nr. 65, Lass‘ es krachen –
die Aachener Printe

Reisereportage - Die Zeit, erschienen 5. Dezember 2013

Printen gegen Lebkuchen. Wer backt besser – Aachen oder Nürnberg?

"Darf ich?" Von allen Seiten greifen wattierte Winterjackenarme nach meinem Teller. Angesichts der Printe wird nicht lange gefackelt. Während ich noch überlege, ob ich lieber zuerst eine Mandelprinte mit Vollmilchschokoladenglasur oder eine Kräuterprinte mit weißem Mantel kosten soll, hat die eingefallene Reisegruppe meine Probe schon halb verputzt...

>>> weiter

© Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche kommerzielle oder nichtkommerzielle Nutzung, auch auszugsweise und in elektronischen Medien, nur mit schriftlicher Zustimmung der Autorin.

Deutschland
Aachen
Reise
Food
Brauchtum
Reportage


<<< vorherige Reisetexte
weitere Reisetexte >>>