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Nr. 60, Die schöne Form als Norm –
über Körperformen und ihre Normierung

Rezension - Basler Zeitung, erschienen 12. Juli 2013

Das neue Buch von Regula Stämpfli in einem Rutsch durchzulesen, ist so, als ob man sich fünf oder sechs Stunden am Stück anbrüllen lässt. An die meisten Details kann man sich danach nicht mehr erinnern. Sympathie empfindet man keine. Aber der eine oder andere Gedanke bleibt hängen und führt vielleicht zur Veränderung. Regula Stämpfli, 1962 in Bern geboren, ist Historikerin und Politologin. Die BaZ-Kolumnistin lehrt an verschiedenen Universitäten und veröffentlichte zahlreiche Bücher zum Themenbereich Emanzipation und Politik. «Die Vermessung der Frau» heisst das Neueste. Es handelt von «Botox, Hormonen und anderem Irrsinn», wie der Untertitel ankündigt.

Kurz zusammengefasst geht es darin um einen Wahn unserer nachmodernen Welt. Darin wiegen Gewichts- und Umfangszahlen unserer Körper weit schwerer als die einstige Menschheitsfrage, wie wir moralisch integre und bestenfalls glückliche Individuen sein können. Stämpfli diskutiert mit dem Fokus auf Frauen. Jedoch geht es ihr um das Menschsein an sich. Schuld an der rasenden Entfremdung von uns selbst und von der Welt, die uns umgibt, sind aus Stämpflis Sicht die scheinwissenschaftlichen Studien, die immer stärker unsere Normen bestimmen. Studien, die vermessen, welche weiblichen Körper- und Gesichtsformen bevorzugt werden, welches Hüft-Taille-Verhältnis das längste Leben verspricht, welche Zahnstellung die besten Karrierechancen in Aussicht stellt.

Dabei entsteht das Bild, dass eine natürlich belassene Frau an sich mangelhaft sei. «Darin ähneln die Naturwissenschaften einmal mehr den fundamentalistischen Religionen, die weibliche Menschen von Geburt an auf eine Sonderrolle fixieren», konstatiert Stämpfli. In den Medien seien diese Erkenntnisse derart überpräsent, dass man sich ihnen auch als kritischer Geist kaum entziehen könne. «Bis 2007 besass ich nicht ein einziges Paar High Heels. Doch das Lesen von Studien über Schönheit, Körper und Gesundheit hinterliess bei mir Bilder. Mittlerweile ist auch mein Schrank voller hochhackiger Schuhe.»

Das grosse Problem dieses Buches liegt darin, dass seine Substanz berechtigte moralische Empörung ist. Aber Stämpfli macht sich nicht die Mühe, diese Empörung analytisch zu bändigen und souverän zu artikulieren. Über weite Strecken galoppiert sie im unreflektierten Schnellsprech einer Moderatorin aus dem Jugendfernsehen durch ihre Thesen und kürzt die Argumentation am liebsten dort ab, wo Genauigkeit besonders wichtig fürs Verständnis wäre. In einem wilden Rundumschlag springt sie in ihrem Buch vom Verlust küssender Paare in der Öffentlichkeit über die ausländerfeindlichen Plakate am Bahnhof Zürich bis zum «Intelligent Design» der amerikanischen Ultrarechten. Von dort geht es zur rosaroten Barbie-Welt und zur Überlegenheit des Flamenco gegenüber Pole-Dancing-Kursen in der Migros-Klubschule. Auf diese Weise vergeudet die «Die Vermessung der Frau» seine intellektuelle Kraft als «Debattenbuch» und «Gegenwartsanalyse», wie die Autorin es selbst versteht.

Tatsächlich ist Regula Stämpfli eine klare Analytikerin. Und sie sagt wichtige Dinge laut und deutlich. Leider aber auch die unwichtigen. Erst wenn man entschlossen durch das Chaos von hastig aufgegebenen Argumentationsbaustellen balanciert ist, bemerkt man, dass Stämpfli durchaus den grossen Zusammenhang im Blick hat. Sie beklagt nicht weniger als die Auflösung des menschlichen Selbst im herrschenden Biologismus. «Die Entsinnlichung der Welt fällt mit der Hochstilisierung des Körpers zusammen», schreibt sie. Je mehr uns im beschleunigten Alltag die unmittelbar befriedigenden Momente fehlen, etwa eine spontane Umarmung, ein Moment der Harmonie mit einem Freund, ein Augenblick der stillen Einkehr für sich selbst, umso leerer und unzufriedener fühlen wir uns. Umso mehr versuchen wir, unseren Körper zu verbessern, im hilflosen Irrtum, dass mit einem optimierten Äusseren auch die Empfindungsfähigkeit wieder intensiviert werden kann. «Statt wirklich zu leben, bilden sich viele moderne Menschen ständig und wie im Wahn ab und stellen diese Bilder dann auf ihre Facebook-Seite, als ob sie dadurch ein Leben dokumentieren könnten, das sie vor lauter Fremdbildern gar nicht mehr wirklich erlebt haben», schreibt Stämpfli. Wir spüren uns nicht mehr. Wir sehen uns nur noch. «Ausgeblendet wird jeder politische Kontext», sagt die Wissenschaftlerin über die populären Attraktivitätsstudien. «Niemand fragt: Wer bezahlt eigentlich diesen Schrott? Seit der Einführung von Bologna 1999 an unseren Universitäten und Fachhochschulen haben die entpolitisierten Studien à l’américaine zugenommen. Das ist kein Zufall, sondern dahinter steckt die klare Erkenntnis, dass man ungebildeten Konsumenten weit mehr verkaufen kann als informierten.»

Der Politologin Regula Stämpfli geht es um den mündigen Menschen. «Das Mensch-Sein erfordert Selbstverantwortung: das Zwiegespräch mit sich selbst», schreibt sie mit Bezug auf eine der wichtigsten weiblichen Philosophen der Geschichte. «Die Unteilbarkeit des Selbst als menschliches Prinzip gegen die Unmenschlichkeit ist ein Kernthema von Hannah Arendt in ihren Ausführungen über das Böse.» Ein Mensch, der seinen Wert nur noch mit richtigem Body-Mass-Index, geweissten Zähnen und gestrafften Oberarmen spüren kann, hat aus Stämpflis Sicht seine Integrität verloren. Nicht nur der innere Gesprächspartner ist abhandengekommen. Wer sich selbst nur noch im Spiegel wahrnimmt, ist nicht mehr in der Lage, sein eigenes Gewissen zu befragen und ethische und moralische – und damit politische &xnbsp; – Entscheidungen zu fällen. Er verliert damit seine Mündigkeit. Regula Stämpfli überträgt diesen Gedanken auf Frauen, die zwar den Irrsinn des Schönheits- und Gesundheitsdiktats erkennen, sich ihm aber nicht entziehen. «Ich kann nicht anders, weil ich nicht anders darf», nennt sie diese Haltung. In einem waghalsigen Sprung setzt sie sie mit den Ausreden der Nazi-Mitläufer im Dritten Reich gleich: Auch sie haben ja angeblich immer nur «Befehle ausgeführt».

Hier gewinnt Stämpflis Analyse endlich an Kontur. Tatsächlich geht es im Normierungswahn ja nicht um die Lästigkeit, die es bedeutet, ständig an seinem Äusseren herumschrauben zu müssen. Es führt in letzter Konsequenz zur Frage, welche Art von Körper und Mensch überhaupt eine Lebensberechtigung hat. «Eltern wollen immer nur das Beste für ihre Kinder. Was, wenn ein Land, eine Kultur, ein Wirtschaftssystem plötzlich nur noch für gesunde, schöne und angepasste Menschen ein gutes Leben verspricht?», fragt Stämpfli. «Dann werden die Eltern alles tun, um jede Eigenschaft zu vermeiden, die als ‹nicht-schön›, ‹nicht-gesund› und ‹nicht-angepasst› gilt.»

Auch der nationalsozialistische Staat führte Selektionen durch und unterschied zwischen wertem und unwertem Leben. Nichts anderes, führt Stämpfli aus, geschieht, wenn heute Eltern und Ärzte in der Präimplantationsdiagnostik zu entscheiden haben, ob sie einen Fötus entwickeln oder töten. Nur, dass heute nicht mehr der Staat entscheidet, sondern der Markt. Kunden der Präimplantationsdiagnostik investieren in Föten, die das gesundeste und funktionsfähigste Kind versprechen. Stämpfli nennt noch einen weiteren Punkt, der wehtut, weil er richtig ist: «Für Feministinnen besonders tragisch ist, dass sie mit ihrem Wunsch nach Selbstständigkeit der Frau diese neuen Märkte beflügeln. Weil gerade die Reproduktionsmedizin die Nachfrage berufstätiger und älterer Frauen befriedigt.»

Das Problem dieses Buches ist nicht, dass es an viel zu vielen Punkten ungenau und an manchen unerträglich eitel ist. Das Problem ist, dass Regula Stämpfli eine der wenigen in der Schweiz ist, die sich überhaupt mit der notwendigen Vehemenz an der Diskussion um die Vermessung des Menschen und seiner «Pasteurisierung», wie sie es nennt, beteiligt. Es ist eine Diskussion, die &xnbsp; – nicht nur von Frauen und nicht nur in der Schweiz &xnbsp; – mit Furor geführt werden müsste.

Unter Frauen geschieht das nicht, weil diese bekanntlich immer noch viel zu oft die «Lieben» und «Netten» sein wollen. Als solche brüllen sie nun einmal nicht gerne herum. Da ist Regula Stämpfli eine Ausnahme und darum steht sie mit ihren intelligenten Analysen ziemlich allein. Dabei sollten wir dringend mitdiskutieren. Deshalb, liebe Damen und auch liebe Herren, nehmen sie sich ein paar Stunden Zeit, schalten sie den inneren Stilkritiker ab, stecken sie sich Ohropax in die Ohren und lesen Sie dieses Buch.

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Nr. 72, Rauschfreie Zone –
Wie wir uns den Alkohol abgewöhnen

Feuilleton - Welt am Sonntag, erschienen 7. September 2014


Je abstinenter die Gesellschaft wird, desto mehr verlangt sie den Rausch im Film und der Literatur. Dabei gehört der zeitweilige Exzess doch zum Menschsein dazu. Aber: Trinken will gelernt sein.

Nie hat Trinken so gut ausgesehen. In der stilbildenden amerikanischen Serie "Mad Men" sind die Haus- und Bürobars stets randvoll. Die Menschen, die stets um sie kreisen, sind es meistens ebenfalls. Auch die Serie "How I met your mother" spielt zu großen Teilen in einer Bar, und der Titelheld von "Ray Donovan" ist mit seinem Whiskeyglas so gut wie verwachsen. Sich vom maßlosen Trinken fiktiver Personen unterhalten zu lassen, ist nichts anderes als Alkoholpornografie. Nur, anders als bei der sexuellen Variante, wird der Originalakt immer unmoderner...

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Nr. 73, Daniel Düsentriebs Traum –
das Jetpack ist endlich erfunden

Reportage - Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung,
erschienen 14. September 2014

Seit zwei Generationen basteln Menschen an einsatzfähigen Jetpacks. Nun hat ein Erfinder aus Neuseeland eines entwickelt. Und was machen wir jetzt damit?

Mit einem kleinen Sprung stößt sich Glenn Martin von der Wiese und hebt ab in die Luft. In einem weiten Bogen gleitet er immer höher, bis er übermütig wird und sein Kurs Wellenlinien anzudeuten beginnt. Getragen wird er von einem nagellackroten Gerät, das aussieht wie eine mannshohe Designerkaffeemaschine mit zwei übergroßen Saftpressen an den Seiten. Es ist der „Martin Jetpack“, genauer dessen Prototyp 12. Dem Erfinder aus Christchurch an der Ostküste Neuseelands scheint nach über dreißig Jahren gelungen, woran schon Dutzende scheiterten: die Konstruktion eines praktikablen Jetpacks...

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Nr. 16, Die Tage, als Blut und Persiko flossen –
Die Biographie von Eckhard Dagge

Rezension, jungle world, erschienen 21. März 2007

Die Biographie des Weltmeisters Eckhard Dagge zeichnet nicht nur eine große deutsche Boxerkarriere nach, sondern bietet auch ein Zeitgemälde aus der untergegangenen Bundesrepublik

Lange warten muss man nicht auf das legendäre Zitat. Es erscheint bereits im Titel. »Es sind schon viele Weltmeister Alkoholiker geworden. Aber ich bin der erste Alkoholiker, der Weltmeister wurde.« So heißt die Biographie des deutschen Weltmeisters Eckhard Dagge...

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